Dr. med. vet. Yvonne Stallknecht 

(ehemals Boekholt)

Chiropraktik und Osteopathie für Pferde

Wohin will Warmblutzucht? Wohin wollen wir? - Eine Stellungnahme zur Warmblutzucht 

Junge Pferde sind heutzutage mit extrem viel Bewegungspotenzial und Dynamik ausgestattet, da die Nachfrage das Angebot bestimmt. Für viele Freizeitreiter reicht es nicht mehr aus in ihrer Freizeit „nur“ zu Reiten. Sie möchten gerne sehen, dass sie „gute“ Reiter sind, dass sie erfolgreich sind. Mit anderen Worten sie brauchen Bestätigung von außen, von unabhängigen Personen, die sie – im Vergleich mit anderen Freizeitreitern - beurteilen. Wo bekommt man dieses? Richtig: Auf Turnieren! Um hier möglichst erfolgreich Schleifen zu sammeln soll das Reitpferd möglichst elegant mit elastischen und spektakulären Bewegungen durch das Viereck tanzen. Aber bitte ohne übermäßig viel Mühe, Arbeit, Schweiß und natürlich Zeit, denn es ist ja immerhin noch unsere Freizeit.

Doch an welchen Kriterien messen wir heute ein gutes Reitpferd? Im Moment hat man den Eindruck wir beurteilen die Qualität eines Pferdes daran, wie elegant es aussieht und wie dynamisch es sich bewegt. Mit möglichst viel spektakulärer Aktion in den Hinter- und Vorderbeinen bei gesenktem Kopf bitte.

Aber ist diese Bewegungsstärke noch kontrollierbar? Warum behelfen sich Ausbilder, Berufs- und auch Freizeitreiter heutzutage immer wieder mit fragwürdigen Hilfsmittel wie Körperbandagen und tierschutzrechtlich relevanten Praktiken wie der Rollkur? Was wenn unsere hohen Ansprüche an ein gutes Reitpferd die Zuchtauswahl der Tiere soweit in ihrer Anatomie und Statik so verändert hat, dass die Ausbildung nach den klassischen Grundsätzen der Reitlehre - wie sie schon seit Jahrhunderten praktiziert wird – für die heutigen Züchtungen nicht mehr ausreicht, um aus den heute gezüchteten Pferden ein solides, tragfähiges, leistungsstarkes und vor allem gesundes Reitpferd auszubilden?

Auf welche Kosten sind unsere heutigen Pferde so dynamisch und bewegungsstark?

Betrachtet man aktuelle Fotos von Deckhengsten im Vergleich zu Fotos von vor 30 oder 40 Jahren, erkennt man schnell, dass sich am Exterieur der Tiere viel verändert hat. Die Rücken sind kürzer und die Beine Länger. Es wird zunehmend schwierig einen passenden Sattel zu finden, indem der Reiter genügend Platz findet. Nicht jeder Reiter passt in eine 16er Sitzfläche! Aber was, wenn auf das Pferd nur ein sehr kurzer Sattel gelegt werden kann, weil er sonst auf der Lendenwirbelsäule endet und nicht gerade die 16 jährige Tochter sondern die Mutter mit Größe 40 in den Sattel steigt?

Allgemein ist die Stabilität des Körpers der Elastizität zum Opfer gefallen, die benötigt wird um die Vorderbeine gen Himmel zu strecken. Schwindet die Stabilität schwindet aber auch die Tragkraft, ohne die uns ein Pferd nicht gesundheitsschonend tragen kann. Aber sollten wir ein gutes Reitpferd nicht nach seiner Fähigkeit uns gesund tragen zu können beurteilen und nicht danach wie spektakulär es die Beine bewegt?

Die Hinterhand der heutigen Pferde liegt oft bis zu 15 cm höher als die Vorhand. Besonders gut zu sehen an der abwärts zeigenden Linie zwischen Knie und Ellbogen. Damit ergibt sich zwar ein grandioser Schub aus der Hinterhand, der spektakuläre Bewegungen zur Folge hat, jedoch kann das Gleichgewicht der Pferde diesen nach unten zeigenden Bewegungsvektor nur schwer kontrollieren. Geht man von den Zielen der klassischen Reitlehre aus, in der die Vorhand entlastet und die Hinterhand mehr zum Tragen gebracht werden soll, kommt doch die Frage auf wie weit sich ein modernes Reitpferd in den Hanken beugen muss damit die hohe Hinterhand Gewicht von der Vorhand aufnehmen kann. Bis zu welchem Grad ist dies physikalisch für ein Reitpferd überhaupt machbar?

Und das ist nur die Spitze des Eisbergs an Problemen. Aber spätestens hier sollten wir uns fragen: Was wollen wir?

Ein stabiles Reitpferd, was uns ohne körperliche Schäden davon zutragen im besten Fall 25 Jahre verlässlich auf seinem Rücken tragen kann oder ein elastisches, hochbeiniges Pferd mit spektakulärem Gangpotenzial, das uns in jungen Jahren viele bunte Schleifen bringt zwischen 15 und 20 mit einer Hand voll gesundheitlicher Probleme in Rente geht und dem Tierarzt und Chiropraktor ein Ferienhaus finanziert hat? (Auch wenn ich gerne ein Ferienhaus hätte... Ich verzichte gerne darauf, wenn die Pferde dafür ein wenig gesünder würden...)